Der Vorleser:
Interpretation des letzten Kapitels des Romans ,,Der Vorleser" von Bernhard Schlink und eine Antwort auf die Frage: ,,Warum musste diese Geschichte (Roman oder Michaels Geschichte) geschrieben werden?
Im letzten Kapitel des Romans "Der Vorleser" von Bernhard Schlink, reflektiert die Hauptperson, Michael, nocheinmal über all das Geschehene bezüglich seiner einzigen großen Liebe, Hanna, und erläutert ebenfalls warum er sich dazu entschlossen hat dies in Form einer Geschichte niederzuschreiben. Er spricht offen über seine Gefühle und kommt schließlich zu dem Schluss, dass er seinen Frieden mit ihr und seiner Vergangenheit machen muss.
Das Kapitel beginnt mit der Aussage von Michael: "Inzwischen liegt das alles zehn Jahre zurück." Dies wirft natürlich sofort die Frage auf, warum er sich erst nach so einer langen Zeit dazu entschlossen hat, über sich und seine Vergangenheit in solch einer offenen Weise zu sprechen. War etwa ein wenig Scham im Spiel, weil er in seinem kindlichen Übereifer eine Frau geliebt hat, welche gut und gerne seine Mutter hätte sein können?
Im weiteren Verlauf dieses Textabschnittes stellt sich Michael immer wieder Fragen bezüglich seiner eigenen Schuld und der Art und Weise, wie die Dinge abgelaufen sind.
"In den letzten Jahren nach Hannas Tod haben mich die alten Fragen gequält, ob ich sie verleugnet habe, ob ich ihr etwas schuldig geblieben bin, ob ich schuldig geworden bin, indem ich sie geliebt habe, ob ich und wie ich mich von ihr hätte lossagen, loslösen müssen."
Die meissten dieser Fragen sind eigentlich vollkommen unsinnig und wurden im Verlauf des Romans schon beantwortet. Der Abschnitt: "[...] ob ich sie verleugnet habe [...]", bezieht sich auf die Szene im Schwimmbad, in welcher Michael nicht sofort auf Hanna zugeht, woraufhin sie das Schwimmbad verlassen hat. Noch lange nach diesem Erlebnis macht er sich große Vorwürfe, da Hanna nach diesem Ereignis nicht mehr auffindbar war. Michael glaubte, dass dies seine Schuld gewesen sei, doch es stellt sich im Verlauf des Romans heraus, dass Hanna die Stadt nur verlassen hat, um Aufseherin in einem Konzentrationslager zu werden, um einer potentiellen Blossstellung aus dem Weg zu gehen.
An diesem Beispiel sehen wir sehr deutlich wie er seine Schuld auf seine Vergangenheit projiziert, obwohl es vollkommen klar ist, ihm selbst wohl auch, dass er absolut unbeteiligt an dem Geschehenen war.
Dieses Verhalten zeigt sehr deutlich seine Hilflosigkeit und Ungewißheit was seine Vergangenheit angeht. Zwanghaft versucht er irgendein Schema dort hineinzubringen, um das Erlebte zu verstehen, auch wenn dies heisst, die Schuld auf sich zu nehmen. Schließlich steigert er sich in seinem Wahn bzw. Streben nach Erkenntnis, in die Frage hinein, ob er nicht doch an ihrem Tod schuld ist. ("Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich für ihren Tod verantwortlich bin.")
Allerdings projiziert er den Schmerz, den er durch die "alten Fragen" erfährt, auch auf Hanna. ("Und manchmal war ich zornig auf sie und über das, was sie mir angetan hat.")
Wir sehen also, dass er seine Vergangenheit und insbesondere die Herkunft seines emotionalen Schmerzes, von allen erdenklichen Seiten beleuchtet, immer mit dem Ziel im Hinterkopf, diese zu verstehen und somit auch was Hanna getan hat.
Schliesslich gelangt Michael an einen Punkt, an dem diese Fragen aufhören, ihn zu quälen und er endlich seinen Frieden mit der Vergangenheit macht. ("Bis der Zorn kraftlos und die Fragen unwichtig wurden. Was ich getan und nicht getan habe und sie mir angetan hat - es ist nun eben mein Leben geworden.")
Dies beantwortet auch die Frage, warum er zehn Jahre gebraucht hat, um über Hanna offen zu reden. Zuerst mussten sich die emotionalen Wogen glätten. Er musste sich erst mit seiner Vergangenheit abfinden und seinen Frieden mit ihr machen. Doch hat Michael ein bisschen mehr Klarheit in all das Erlebte mit seiner großen LEIDENschaft, Hanna, gebracht? Ich glaube nicht. Er hat lediglich mit der Vergangenheit abgeschlossen, doch es kam noch nicht zur Aufarbeitung dieser.
Dies ist auch der Grund, warum er sich entschliesst, Hannas und seine Geschichte niederzuschreiben. ("Den Vorsatz, Hannas und meine Geschichte zu schreiben, habe ich bald nach ihrem Tod gefasst.")
Wie wir sehen, kam es zum Entschluß dies zu tun kurz nach ihrem Tod, zur eigentlichen Ausführung allerdings erst zehn Jahre später, was uns noch einmal zeigt, dass es von absoluter Wichtigkeit ist, erst seinen Frieden mit der Vergangenheit zu machen, um sie dann im Anschluß in einer angemessenen Art und Weise aufzuarbeiten. Doch warum enschliesst sich Michael gerade dazu diesen "Aufarbeitungsprozess", in Form einer Geschichte zu vollziehen?
Durch den gesamten Roman zieht sich sein innerer Drang, Hanna und ihre Vergangenheit zu verstehen. Es gibt diverse Ansätze dazu, wie z.B. der Besuch des Konzentrationslagers, in welchem Hanna "gearbeitet" hat. Krampfhaft versucht er die unfassbaren Greueltaten der NS-Zeit zu verstehen und somit auch einen Teil von Hannas Vergangenheit. Was ich sehr interessant an dieser Stelle finde ist, wie Bernhard Schlink diese Geschichte auf zwei Ebenen laufen lässt; auf der des Individuums und dem der allgemeinen Epoche und wie er immer wieder Parallelen zwischen diesen beiden zieht.
Ein anderes Beispiel dafür, wie Michael versucht mit dem Geschehenen abzuschliessen, ist das Gespräch mit seinem Vater. Doch all dies führt zu keinem Ergebnis. Nur die Sprache und das geschriebene Wort bieten ihm ein Ventil für seine Gefühle, welche sich über Jahrzehnte hinweg aufgestaut haben.
Michael sagt außerdem aus, dass sich seine Geschichte viele Male in seinem Kopf geschrieben hat. ("Seitdem hat sich unsere Geschichte in meinem Kopf viele Male geschrieben, immer wieder ein bißchen anders, immer wieder mit neuen Bildern, Handlungs- und Gedankenfetzen. So gibt es neben der Version, sie ich geschrieben habe, viele andere.")
Diese Textpassage zeigt eindeutig, wie intensiv er sich mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Immer wieder hat er seine Geschichte von verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet und es hat sich jeden Mal von neuem dieses Drama, in einer neuen Gestalt abgespielt. Die Tatsache, dass es viele verschiedene Versionen dieser Geschichte gibt, bestätigt oben genannte Aussage. Doch worin unterscheiden sich diese Versionen?
Wie er selbst sagt: in "[...] Bildern, Handlungs - und Gedankenfetzten [...]", was auf unterschiedliche Betrachtungsweisen schließen lässt. Einige Versionen mögen wohl emotionaler als die anderen sein, andere wiederum objektiver.
Michael verfolgt zum Ersten das Ziel mit seiner Vergangenheit abzuschliessen und zum Zweiten möchte er kein Detail auslassen, weil ihm diese Zeit viel zu wichtig ist, als daß er sie einfach so "abhaken" könnte. Wiederum möchte er eine Geschichte schreiben, welche für den Leser geeignet ist und dies erfordert nun einmal eine möglichst emotionsfreie und objektive Betrachtungsweise des Geschehenen. Die einzige Möglichkeit eine zufriedenstellende Darstellung seiner Vergangenheit, sowie der gesamten NS-Zeit, ist eine, wie schon gesagt, objektive, emotionsfreie Tatsachenschilderung und dies erfordert einen inneren Geisteszustand, welchen Michael erst nach zehn Jahren erreicht hat. Und dies ist auch der Grund warum diese Version die richtige ist, wie Michael selbst sagt, weil sie für den Leser bestimmt ist und somit so emotionsfrei wie möglich sein soll.
("Die geschriebene Version wollte geschrieben werden, die vielen anderen wollten es nicht.")
Wie schon gesagt, hat sich Michael sehr intensiv mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt, was ihn so weit treibt, dass er seiner Geschichte menschliche Charakterzüge zuordnet. Er personifiziert diese regelrecht.
Am Anfang wollte er seine Geschichte nur schreiben, um sie loszuwerden, dabei läßt er allerdings offen ob er wirklich Hanna oder doch seine Geschichte meint. ("Zuerst wollte ich unsere Geschichte schreiben, um sie loszuwerden.")
Über die vielen Jahre hinweg, haben sich all diese Gefühle in Michael angestaut und da er noch nie mit jemandem offen darüber geredet hat, brechen sie sozusagen alle auf einmal hervor, als er sich langsam ein Ventil durch das Schreiben verschafft. Emotionale Wunden und Schmerzen entstehen, weshalb er sie auch loswerden will, was allerdings auch dazu führt, dass sie ihm entgleitet und sie beinahe verliert. Dann versucht er sie durch das Schreiben zurückzuholen, was auch misslingt. All dies erfolgt in einer Zeit, in der er noch nicht seinen Frieden mit ihr gemacht hat; erst nachdem sich dieser wichtige Schritt vollzogen hat, stellen sich seine Gedanken wieder ein und es ist ihm möglich mit dem Schreiben seiner Geschichte zu beginnen. ("Dann merkte ich wie unsere Geschichte mir entglitt, und wollte die durchs Schreiben zurückholen, aber auch das hat die Erinnerung nicht hervorgelockt. Seit einigen Jahren lasse ich unsere Geschichte in Ruhe. Ich habe meinen Frieden mit ihr gemacht. Und sie ist zurückgekommen [...]"
Die Personifizierung dieser und indem er sie zur Ruhe kommen lässt, bilden die Vorraussetzung für das Schreiben seiner Geschichte. Erst jetzt ist sie "[...] rund, geschlossen, gerichtet [...]", dass heisst er hat einen Schlussstrich unter seine Vergangenheit gezogen und kann diese in einer Art und Weise nacherzählen, welche Emotionen aussen vor lässt. "[...] die Frage, ob sie traurig oder glücklich ist, [hat] keinerlei Bedeutung [...]", da er lediglich an der Darstellung der Realität bzw. Tatsachen interessiert ist.
Es gelingt ihm jedoch nicht, alle Emotionen aussen vor zu lassen, es ist für ihn sozusagen nur ein frommer Wunsch. Bei emotionalen Verletzungen, reissen die alten Wunden wieder auf, welche ihm Hanna zugefügt hat. ("Jedenfalls denke ich das, wenn ich einfach so an sie denke. Wenn ich jedoch verletzt werde, kommen wieder die damals erfahrenen Verletzungen hoch [...]")
Dies zeigt sehr deutlich wie intim die Beziehung zwischen den beiden gewesen sein muss.
Michael war und ist immer noch sehr eng an Hanna und ihre Vergangenheit gebunden. Sie ist der Maßstab für alles was nach ihr kam und somit auf ewig ein Teil von Michaels Leben. Es ist ihm nicht möglich all seine Gefühle aus dem Spiel zu lassen, denn wie er selbst sagt: "Die Schichten unseres Lebens ruhen zu dicht aufeinander auf, daß uns im Späteren immer Früheres begegnet, nicht als Abgetanes und Erledigtes, sondern gegenwärtig und lebendig." Dies zeigt, dass auch Hanna immer noch gegenwärtig und lebendig ist. Obwohl sie tod ist, nimmt sie Einfluss auf Michaels Leben, in welcher Weise auch immer.
Dieser Umstand ruft in ihm ein Gefühl von Hilflosigkeit und Befangenheit hervor. Michael weis nicht recht wie er mit dieser Situation umgehen soll. Er kann diese zwar verstehen, doch ist es manchmal sehr schwer für ihn zu ertragen. ("Ich verstehe das. Trotzdem finde ich es manchmal schwer erträglich.")
Ich kann sehr gut dieses Gefühl der Ungewissheit nachempfinden, welches Michael in diesem Moment gerade erlebt.
Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, warum er seine eigentliche Intension noch einmal in Frage stellt. ("Vielleicht habe ich unsere Geschichte doch geschrieben weil ich sie loswerden will, auch wenn ich es nicht kann.")
Ihm werden die emotionalen Schmerzen noch einmal bewusst und er will diese so schnell wie möglich loswerden. Es ist allerdings nicht möglich, das Erlebte zu vergessen, und er kommt auch zu dem Schluss, dass es tödlich sein kann, die Vergangenheit zu vergessen. Ihm wird bewusst wie essentiell wichtig es ist, sich dem Geschehenen zu erinnern.
Schliesslich überweisst Michael Hannas Geld an die Jewish League of Illiteracy und erfüllt somit ihren letzten Wunsch, denjenigen das Geld zu gute kommen zu lassen, denen sie geschadet hat. Dieser Teil des letzten Kapitels ist besonders interessant, weil hier Gegenwart und Vergangenheit aufeinandertreffen, in Form dieser jüdischen Organisation und Hannas Vermögen.
Daraufhin erhält Michael "[...] einen kurzen computergeschriebenen Brief, in dem sich die Jewish League Ms. Hanna Schmitz für ihre Spende dankt." So wie der Brief beschrieben wird, erscheint er sehr unpersönlich. Es scheint geradezu so als ob die Organisation auf das Geld angewiesen sei, jedoch nicht interessiert ist an der Person, die hinter dem Geld steht und ihren Beweggründen. Ebenfalls stellt sich die Frage, warum Hanna all ihr Geld denen zur Verfügung gestellt hat, denen sie geschadet hat. Hat sie es wirklich bereut, was sie dort in diesem Konzentrationslager getan hat oder wollte sie sich einfach von ihrer Schuld freikaufen.
Nachdem Michael den Brief erhalten hat, geht er damit zu Hannas Grab. Dies war das erste und einzige Mal, dass er dort stand. ("Mit dem Brief in der Tasche bin ich auf den Friedhof zu Hannas Grab gefahren. Es war das erste und einzige Mal, daß ich an ihrem Grab stand." ) Ich fasse dies als ein Zeichen des Respekts, des Nicht-Vergessenwollens und des Immernoch-Verstehenwollens auf. Doch ich denke nicht, dass er in diesem Moment wirklich um sie getrauert hat, denn dann wäre er öfter an ihr Grab gegangen.
Alles in Allem können wir sagen, dass das Schreiben seiner Geschichte für Michael die einzige Möglichkeit war, seine Vergangenheit zu verstehen . Es gab verschiedene Ansätze im Verlaufe des Romans, wie z.B. der Besuch des Konzentrationslagers, doch nur der des Schreibens stellte sich als durchführbar heraus. Doch alle verfolgen ein einziges Ziel; alle sind verzweifelte Versuche Michaels grosse Liebe, Hanna Schmitz, zu verstehen. Er will endlich einen Schlussstrich unter seine Vergangenheit ziehen, damit seine emotionalen Qualen aufhören. Aber er will das Erlebte auf keinen Fall in Vergessenheit geraten lassen, weil dies ganz einfach DER wichtigste Teil in seinem Leben ist.
Der Roman "Der Vorleser" von Bernhard Schlink ist ganz klar ein Roman gegen das Vergessen. Genau wie Michael vor den Trümmern seiner Vergangenheit steht, stehen wir vor den Überresten unserer Vergangenheit und versuchen genau wie er, diese zu verstehen.
Wir versuchen, die unfaßbaren Greueltaten des Zweiten Weltkriegs zu begreifen, doch es gelingt uns einfach nicht. Bernhard Schlink versucht, diese schwierige Aufgabe, anhand einer detaillierten Darstellung einer einzelnen Person, zu bewältigen und es ist ihm, wie ich finde, ausgezeichnet gelungen. Er macht deutlich, wie extrem wichtig es ist, das Vergangene nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, da die Vergangenheit den Schlüssel zu unserer Zukunft ist. Die Gefahr des sich Wiederholens muss eliminiert werden, indem man einen jeden bezüglich unserer Vergangenheit aufklärt.
Indem Bernhard Schlink seine Geschichte bzw. Roman immer auf den beiden Ebenen des Inividuums und der geschichtlichen Epoche laufen lässt, macht er sein Anliegen dem Leser sehr deutlich.